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Alter

Der laufende Spaghetti-Kopf

Oskar hatte eine blühende Fantasie. Jeden Abend, bevor er seine Zähne putzte, schrieb er die besten Erlebnisse seines Tages auf. Diese Gewohnheit hatte er sich von seiner Großmutter abgeschaut. Diese Technik sei der Grund gewesen, warum sie über 100 Jahre alt geworden war – das wurde seine Großmutter zumindest nicht müde zu wiederholen. Während Oskars Eltern dabei immer ihre Augen verdrehten, liebte es Oskar, die Geschichten seiner Großmutter zu hören. „100 Jahre“, hatte er sich gedacht, „100 Jahre, so alt möchte ich auch werden.“ Also nahm er sich vor, sich ein Beispiel an seiner Großmutter zu nehmen.

Er versuchte das gleiche zu essen, nutzte das gleiche Shampoo und einmal hatte er sogar versucht, seine Zähne vor dem Schlafen aus dem Mund zu nehmen, um sie über Nacht in einem eigens dafür aus der Küche geholten Glas einweichen zu lassen. Auch wenn er lernen musste, dass das nicht klappte, hatte er große Freude daran, seiner Großmutter nachzueifern. Seine liebste Angewohnheit war jedoch das tägliche Zurückschauen auf den Tag. Seine Mutter hatte ihm dafür extra ein kleines Notizbuch gekauft, das er in dem Geheimversteck unter seinem Bett aufbewahrte. Jeden Abend, wenn er sich ganz sicher war, dass ihn niemand dabei beobachtete, holte er das Notizbuch und seinen Lieblingsstift hervor. Er blätterte dann jede Seite einzeln nach vorn und freute sich darüber, dass seine Schrift der seiner Großmutter immer ähnlicher wurde. Dann begann er zu schreiben: „Heute habe ich zwei Jungs auf dem Spielplatz gesehen, die ich vorher noch nie gesehen habe. Wir haben zusammen Ball gespielt. Auf dem Rückweg habe ich mit Mama Eis gegessen.“ Zusätzlich hatte er sich angewöhnt, zu jedem Tag ein kleines Gesicht zu malen. Da ihm das Schreiben so viel Spaß machte, malte er nur fröhliche Gesichter in sein Buch.

Wenn er fertig war und sein Notizbuch wieder sicher verstaut hatte, lief er die Treppe nach unten. Jedes Mal, wenn er unten angekommen war, stand seine Mutter schon neben der Treppe und begleitete ihn ins Bad. Er wusste nicht, wie sie das machte; egal, wie schnell oder leise er versuchte, die Treppe nach unten zu steigen – sie war immer schon dort. Nach dem Zähneputzen bestand er darauf, dass ihn seine beiden Eltern ins Bett brachten. An guten Tagen, trug ihn sein Vater sogar die Treppe nach oben. Er liebte dieses Gefühl und stellte sich dabei immer vor, er würde die Treppe hinauf fliegen.

So vergingen Tage und Wochen. Jeden Tag wurde Oskars Notizbuch wieder etwas voller. Bald schon würde er ein neues benötigen, dachte er sich eines Abends. Er nahm sich vor, seine Großmutter bald zu fragen, wie ihr Vorgehen für neue Notizbücher war. Er wusste nicht, woher seine Mutter das erste hergenommen hatte und wollte lieber sichergehen, dass er mit dem zweiten nichts falsch machte. Er plante, vor dem Schlafen seine Mutter zu fragen, wann sie seine Großmutter das nächste Mal besuchen würden. Er fand es immer noch ein bisschen komisch, dass sie umgezogen war. Ihre alte Wohnung hatte sie eingetauscht gegen ein viel kleineres Zimmer. Dort roch es irgendwie eigenartig und sie hatte nicht einmal mehr eine eigene Küche! Als sie das erste Mal dort waren, hatte ihm seine Oma nicht geantwortet, wieso sie umgezogen sei. Dabei war die Erklärung doch ganz einfach: Seine Eltern hatten ihm erklärt, dass seine Großmutter in ihrem neuen Zuhause mit mehr Menschen in ihrem Alter zusammen sein kann. Das konnte er verstehen. Er mochte es auch am meisten, mit Freunden in seinem Alter zu spielen. Die Erstklässler fand er kindisch und die Drittklässler waren gemein. „Das ist ja dann fast ein bisschen wie Ferienlager für Oma!“, hatte er seinen lächelnden Eltern freudig entgegengerufen. „Ja, fast“, hörte er sie antworten, während er aus dem Fenster schaute und sich vorstellte, zusammen mit seinen Freunden in einem Haus zu wohnen.

„Mama? Wann besuchen wir Oma wieder?“, fragte er seine Mutter am Abend. „Wir wollen am Sonntag in den Zoo und danach fahren wir zu Oma. Freust du dich schon?“
„Au ja. Und auf den Zoo freue ich mich auch. Vielleicht sehen wir ja Löwen!“. Seine Mutter lachte. Oskar schaute konzentriert und sagte dann: „Bis Sonntag sind es ja nur noch drei Tage!“ Er hätte sein Notizbuch am liebsten sofort noch einmal hervorgeholt, um die guten Neuigkeiten festzuhalten, aber er wollte sich den Platz lieber sparen. Außerdem war seine Mutter ja immer noch im Raum und er durfte sein Geheimversteck nicht offenbaren. An diesem Abend schlief Oskar voller Vorfreude ein und träumte von Löwen und Tigern.

Am nächsten Tag erzählte er all seinen Freunden, dass er am Sonntag in den Zoo gehen würde. Er konnte es kaum abwarten und da er all seine Lieblingstiere auf seinem Block malte, konnte er sich nicht wirklich auf den Unterricht konzentrieren. Er wünschte sich, dass er heute ausnahmsweise früher nach Hause gehen könnte. Mitten in der Mathestunde kam dann plötzlich Frau Willenstein in das Klassenzimmer und sagte, dass Oskars Mutter da war, um ihn abzuholen. Das musste sein Glückstag sein! Freudig packte er seine Federmappe und seine Hefte ein und ging durch die Reihen des Klassenzimmers nach vorne. Frau Willenstein sah traurig aus, dachte er sich. Er war jedoch viel zu aufgeregt, um weiter darüber nachdenken zu können. Er fragte sich, wieso ihn seine Mutter jetzt schon abholte. Das letzte Mal, als er so früh aus der Schule abgeholt wurde, war er krank. Doch dieses Mal war er gar nicht krank. Im Gegenteil; er fühlte sich richtig fit! Vor allem jetzt, wo er wusste, dass er nach Hause konnte. Vielleicht hatte sich der Plan ja geändert und sie würden heute schon in den Zoo und zu seiner Oma fahren? „Das würde vielleicht ein Eintrag in seinem Notizbuch werden!“, dachte er und überlegte, ob er an solchen besonders tollen Tagen auch mehr als ein fröhliches Gesicht malen könnte. Das würde er am besten nachher gleich seine Großmutter fragen.

Als Oskar seine Mutter sah, rannte er freudig auf sie zu. Sie hob ihn hoch und er spürte, dass ihre Wange feucht war. Er wunderte sich, weil es gar nicht geregnet hatte. Vielleicht hatte sich seine Mutter gerade das Gesicht gewaschen? Er hörte, wie sie Frau Willenstein fragte, ob sie noch etwas unterschreiben musste. „Das ist schon okay, Frau Merz.“
Frau Willenstein schaute Oskar noch einmal mit ihrem traurigen Gesicht an und verabschiedete sich dann. Als sie nicht mehr zu sehen war, fragte Oskar ganz aufgeregt, wieso seine Mutter ihn schon so früh abgeholt hatte. Seine Stimme überschlug sich dabei fast, als er ausführen wollte, ob sie vielleicht schon heute in den Zoo gehen würden.

„Wir besuchen deine Oma“, Oskar lächelte, „Sie ist gestürzt und ist jetzt im Krankenhaus.“
„Oh nein, die Arme!“, dachte sich Oskar. Er erinnerte sich daran, wie er einmal im Sportunterricht gestolpert war und sich sein rechtes Knie aufgeschlagen hatte. Er durfte damals für eine ganze Woche nicht mehr mit seinen Freunden draußen spielen. Aber Oma spielte ja ohnehin nicht so viel draußen. Vielleicht könnten ja ein paar von ihren Freunden aus ihrer neuen Wohnung sie im Krankenhaus besuchen kommen.

Auf der Fahrt zum Krankenhaus redeten Oskar und seine Mutter nur wenig. Oskar war noch nie in einem gewesen und malte sich aus, wie es dort wohl aussehen würde. Von den anderen aus seiner Klasse hatte er mitbekommen, dass Menschen dort hingingen, wenn sie krank waren und dann gesund wieder zurückkamen. Er stellte sich vor, wie dort vielleicht Magier oder Roboter aus der Zukunft arbeiten würden.

Als sie dort ankamen, war Oskar etwas enttäuscht. Die Menschen dort sahen ganz normal aus. Nur manche von ihnen hatten lange, weiße Jacken an. Das musste eine Art Uniform sein, auch wenn Oskar sie etwas langweilig fand. Während er an der Hand seiner Mutter lief, schaute er sich neugierig um. Sie bogen mehrmals ab, aber irgendwie sah in diesem Haus alles gleich aus. Allerdings öffneten sich alle Türen vor ihnen automatisch, was Oskar beeindruckte. Als sie noch ein letztes Mal rechts abbogen, sah er seinen Vater, der auf einem Stuhl saß. Seine Eltern umarmten sich. Oskar schaute auf die Tür vor ihnen und versuchte den Ursprung dieses merkwürdigen Piepens ausfindig zu machen. Er schaute an den Wänden entlang, bis ihn seine Mutter antippte und sich neben ihn kniete.
„Möchtest du zu deiner Oma gehen?“, fragte sie leise. Sie erklärte ihm, dass seine Oma sehr erschöpft sei und sie sich jetzt viel ausruhen musste. Deswegen konnten sie nicht lange zu ihr ins Zimmer. Er nickte und freute sich darauf, von seiner Oma in den Arm genommen zu werden. Seine Mutter öffnete die Tür vor ihnen und das Piepen wurde plötzlich lauter.

In dem Raum sah er eine alte Frau, die wie seine Großmutter aussah. Sie lag in einem hohen Bett, um das er ganz viele kleine Fernseher angebracht waren. Vor ihrem Gesicht hatte sie etwas, das wie ein durchsichtiger Strohhalm aussah. Oskar packte die Hand seiner Mutter etwas fester und ging langsam nach vorn. Als er näher zum Bett kam, sah er ein Lächeln auf den Lippen seiner Großmutter, doch sie blieb stumm. „Hallo Oma“, sagte er leise und sie nickte langsam mit dem Kopf. Seine Mutter hatte recht gehabt, sie sah wirklich sehr müde aus. „Du kannst deiner Oma die Hand halten, wenn du magst“, flüsterte seine Mutter Oskar ins Ohr. Er ging nach vorn und legte seine Hand auf die seiner Großmutter. Sie ergriff seine Hand und versuchte sich etwas aufzurichten.
„Du brauchst nichts sagen, wenn es anstrengend ist, Oma. Wir können auch später reden!“
Seine Oma drückte seine Hand nun nochmal etwas fester. Es fühlte sich ein bisschen an als wäre ihre Hand aus Sand.

Während Oskar die Hand seiner Großmutter hielt, hörte er, wie sein Vater über einen Arzt sprach und darüber, was dieser gesagt hatte. Oskar verstand davon nicht viel, aber wie immer wirkte es so, als wüsste sein Vater alles, was es zu wissen gäbe. Er lächelte seine Großmutter an und fragte sich, wann sie wohl wieder in das Haus mit den anderen alten Frauen gehen würde. Nach einer Weile verabschiedeten sie sich von seiner Großmutter und er fuhr mit seiner Mutter nach Hause. Sein Vater wollte noch etwas dort bleiben. Wahrscheinlich brauchten sie dort jemand so schlauen wie Oskars Vater.

Als sie zuhause angekommen waren, war es draußen schon dunkel. Sie aßen noch etwas und dann folgte Oskar seiner abendlichen Routine. Er war erschöpft von den vielen neuen Eindrücken und schlief schnell ein, auch wenn er es schade fand, dass sein Vater ihn nicht ins Bett bringen konnte.

Als Oskar am nächsten Morgen aufwachte, sah er seine beiden Eltern in seinem Zimmer. Er lächelte, doch sie erwiderten sein Lächeln nur zaghaft.
„Was ist denn los, Mama?“, fragte er.
„Oskar, deine Oma“, sie stoppte und schaute zu Oskars Vater. „Deine Oma ist letzte Nacht eingeschlafen. Weißt du, manchmal wenn alte Leute einschlafen, vor allem, wenn sie schon über 100 Jahre alt sind, dann haben sie nicht mehr die Energie, aufzuwachen. Deine Oma hat sich dazu entschieden, für immer weiterzuschlafen.“
Die Stimme von Oskars Mutter brach ab. Oskar merkte, wie er plötzlich ein schweres Gefühl auf seiner Brust spürte. Fast als würde sich jemand auf ihn setzen, aber dort war niemand.

„Was passiert jetzt mit Oma?“, fragte Oskar leise. Seine Eltern schauten erst sich und dann wieder ihn an. Seine Mutter atmete tief ein und antwortete dann: „In der kommenden Woche werden wir eine Feier veranstalten, zu der alle von Omas Freunden kommen werden.“
„Aber warum feiern wir, wenn Oma nicht mehr da ist?“, fragte Oskar verwundert.
„Wir kommen zusammen, damit sich alle Menschen, die Oma kannten, von ihr verabschieden können. Das ist ein besonderer Tag, an dem alle Gäste nur an deine Oma denken. Man sagt, dass man ihr die letzte Ehre erweist.“

„Ehre“, das hatte Oskar schon einmal in einem Cowboy-Film gehört. Er wusste nicht genau, wie das mit seiner Oma funktionierte, aber er vertraute seinen Eltern. Sie wussten in allen Situationen die richtige Lösung.
An diesem Tag unternahmen sie nichts. Oskars Papa musste zwischendurch noch einmal ins Krankenhaus, aber Oskars malte fast den ganzen Tag. Er malte und dachte nach. Jedes Mal, wenn er etwas nicht verstand, fragte er seine Mutter. Sie konnte ihm alles erklären, aber er war immer noch so traurig darüber, dass er seine Großmutter nicht mehr sehen würde. Ein paar Mal am Tag versuchte er sogar heimlich, sich zu zwicken, weil er dachte, dass er in einem Traum gefangen war, doch er wachte nicht auf.

Am Ende des Tages aßen Oskar und seine Eltern Abendbrot. Danach ging er in sein Zimmer und holte sein Notizbuch aus seinem Geheimversteck. Er öffnete es, aber spürte nicht das übliche Glücksgefühl, das er damit verband. Er hatte immer schöne Sachen in dieses Buch geschrieben, aber heute, wusste er nicht, was er schreiben sollte. Er war sehr traurig und überlegte, was seine Großmutter wohl an einem solchen Tag in ihr Buch geschrieben hätte. Da er keine Antwort wusste, entschloss er sich, einfach das aufzuschreiben, was er gerade dachte:

„Heute war ein komischer Tag. Mama und Papa haben mir gesagt, dass Oma nicht aufgewacht ist. Sie haben gesagt, dass das manchmal passiert, wenn Menschen über 100 Jahre alt sind. Heute ist nicht schönes passiert. Ich weiß nicht, wie ich mich heute fühle oder worüber ich mich freuen soll. Alles ist irgendwie durcheinander. Ich fühle mich wie ein laufender Spaghetti-Kopf.“

Er wusste nicht, was er weiter schreiben sollte. Bei dem Anblick der Gesichter neben den Einträgen der letzten Tage, entschloss sich Oskar für den heutigen Tag ein trauriges Gesicht mit Spaghetti-Nudeln zu malen. Er hoffte, bald wieder fröhliche Gesichter malen zu können.

Wo?

Wo auch immer seine Frau ihn hier hin getrieben hatte; er hasste es hier. Diese ewig freundlichen Menschen, die ihm das Gefühl gaben, als könne er seine eigene Hand nicht mehr heben. Seine Frau – wo war die eigentlich? Er war sich sicher, dass sie es ihm gesagt hatte, aber wie so oft in letzter Zeit hatte er sich dagegen entschieden, ihr zuzuhören.

Ihre quitschend-zillernde Stimme hatte ihn schon immer ein bisschen genervt, aber anfangs bildetete er sich ein, sich daran gewöhnen zu können. Als dann die Zeit kam, nach der es üblich war, um ihre Hand anzuhalten, hatte er ihre Stimme als wenig legitimen Grund gesehen, sie zu verlassen. Außerdem empfand er es schon immer als anstrengend, neue Menschen kennenzulernen.

Jetzt wo er so darüber nachdachte, hatte er es eigentlich ganz gut mit seiner Frau. Sie hatte nie den Wunsch geäußert, ein Kind mit ihm zu bekommen. Das schätzte er sehr an ihr. Schließlich empfand er das Führen seines eigenen Lebens bereits als unbeschreiblich mühsam.

Er atmete tief durch. Weiterhin in dem Versuch versunken, herauszufinden, wo er sich hier eigentlich befand, versuchte er die letzten Tage und Stunden zu rekonstruieren. Das fiel ihm irgendwie schwerer in letzter Zeit.

Er konnte sich jedoch entsinnen, dass ihn seine Frau vor einigen Wochen eindringlich darum gebeten hatte, mit ihr in diesen Urlaub zu fahren. Er meinte zumindest, dass es dieses Wort war, das sie verwendet hatte. Da es ihm im Grunde egal war, wo er seine Bücher las, hatte er stumm nickend zugestimmt und sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung zugewandt. Doch jetzt hatte er sein aktuelles Buch abgeschlossen und wusste nicht, wo seine Frau den Nachschub verstaut hatte. Das war ein Problem. Doch diese unendlich freundlichen Fratzen um ihn herum, schienen ihm keine Hilfe zu sein.

„Wo ist meine Frau?“, hörte er sich selbst ein bisschen zu aufgeregt fragen. Verschwommen nahm er die verwirrten Gesichter der Menschen um ihn herum wahr.

„Ihre Frau?“, hörte er ein dumpfes Seufzen auf sein Trommelfell treffen.

Ja, seine Frau. Die hatte er doch gerade gesucht. Warum verstand das niemand von diesen unpersönlichen Schemen?
„Meine Frau. Wo ist meine Frau?“, er rang nach Luft.
„Lesen. Ich will einfach nur lesen“, versuchte er erneut verzweifelt, sich verständlich zu machen.

Zufrieden mit seiner Erklärung, wunderte er sich, nicht die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Dies wurde noch durch das plötzliche Berühren seiner Hand verstärkt.
„Papa! Papa!“, drang nun plötzlich die Stimme seiner Tochter in sein Bewusstsein.

Seine Tocher… Die hatte er vergessen.

Er wunderte sich kurz, doch dann sah er plötzlich alles ganz klar: Das Krankenhaus-Zimmer, seine Tochter, der Arzt. Und auf dem Kittel aufgenäht das Logo der Demenz-Klinik.

Der Mann, der in eine Garage ging und aus einem Flugzeug herauskam

Als ich auf die Dreißig zuging, baute sich der Vater meiner Freundin die Garage zum Flugsimulator um. Mehr als achttausend Euro – so erzählte mir seine Ehefrau – hatte Walter schon in die Garage gesteckt. Seit langer Zeit schon habe sie Probleme mit ihm; er sei immer unleidlicher geworden, wurde maulfauler, kam nachts teilweise gar nicht mehr ins Bett. Er habe immer längere Zeit in der Garage verbracht, hatte immer größere Pakete bestellt und mittlerweile verabschiedete er sich regelmäßig vom abendlichen Esstisch mit dem Hinweis, er fliege die nächsten acht Stunden Frankfurt –> New York – und sie solle nicht auf ihn warten.

Am Abendessen – so erzählte sie weiter – habe er ohnehin kaum noch Interesse. Er rührte das Brot nicht mehr an, schiebe nur lustlos ein paar Cocktail-Tomaten auf dem Teller hin und her und selbst die geliebten Senfgurken gefielen ihm nicht länger. Seine Frau hatte ihn darauf angesprochen, dass er nichts mehr esse und er habe geantwortet, das sei wegen der Verdauung. Er könne ja wohl kaum einen Zwischenstopp machen. Am Ende noch irgendwo notwassern, um auf Toilette zu gehen? Dem Auto-Piloten vertraue er einfach nicht. Wenn sie sich denn wirklich Sorgen um so etwas machen musste, dann sei das sehr lieb, aber nun wirklich nicht notwendig.

Da ich nicht im eigentlichen Sinne zur Familie meiner Freundin gehörte, befand ich, dass es nicht an mir war, mich in die Gelegenheit einzumischen. Doch die Mutter meiner Freundin konfrontierte mich immer wieder mit seinem oder vielleicht auch eher ihrem Problem. Sie dachte wohl, ich müsse mich dort auskennen, immerhin studierte ich in der Stadt und galt jeher als technikaffin. Darüber hinaus sei mir auch das Hineinversetzen in Andere nicht fremd und ein Mann in den späten 60ern, der sein Geld dafür ausgibt, in der Garage nach New York zu fliegen, falle doch ganz sicher in das Gebiet von Psychologen.

Ich entgegnete meist nur, dass sie ja immerhin wisse, wo er sei. Da brauche sie sich keine Sorgen machen. Andere Männer, sagte ich weiter, würden ihre Abende ganz anders verbringen und meist viel mehr Geld ausgeben. Ich führte fort, dass das eine Skurrilität sei, ein interessanter Spleen – etwas um das man Walter gewissermaßen beneiden könne. Andere hätten ihren Garten, Walter habe nun eben New York. Daran sei überhaupt nichts auszusetzen.

Eines Tages als ich von der Arbeit nach Hause kam und meine Freundin am Esstisch vorfand, hatte sie ihre Arme unter der Brust zusammengefaltet und als sie mich sah, tat sie bedrückt. Sie stand etwas schnippisch auf und ging noch schnippischer an den Kühlschrank, holte schnippisch einen Joghurt daraus und stellte ihn schnippisch auf den Tisch. Dann schnippte sie in meine ungefähre Richtung und sagte: „Joghurt“. Ich bedankte mich und tat – herausfordernd lächelnd – unbeeindruckt.
Sie fand das nicht sehr komisch. ich müsse doch merken, dass sie etwas bedrücke, sagte sie. So etwas müsse mir doch auffallen, mir fiele doch sonst alles auf. Für alles hätte ich eine Theorie, behauptete sie, nichts würde mir entgehen. Bei allen Filmen, die wir immer sähen, könne ich nicht aufhören, darüber zu philosophieren, was die Figuren empfänden und wen die Synchronstimme noch vertont habe. Überhaupt sei ich ein Besserwisser, ein spitzfindigkeitliebender Übererklärer und ein Empfindling.
Empfindling sei kein Wort, sagte ich leicht spaßig und leicht gereizt und probierte von dem Joghurt. „Für mich schon“ erwiderte sie, „und jetzt hör auf mit deinen Späßen. Seh ich glücklich aus?“
Ich verneinte wahrheitsgemäß.
„Warum sehe ich nicht glücklich aus?“, fragte sie fordernd. Ich überlegte, ihr eine Reihe von plausiblen Gründen anzubieten, entschied mich aber aus Sorge, sie auf dumme Ideen zu bringen, letztendlich für ein unbestimmtes „Hm“.
„Wegen meiner Mutter“, sagte sie.
„Auf Grund deines Vaters wegen deiner Mutter, meinst du?“, fragte ich und sie nickte, woraufhin ich ihr Nicken bedächtig erwiderte, was ihr ein triumphales Lächeln auf die Lippen trieb.

Ich solle dann noch was vom Chinesen mitbringen, sagte sie und klang wie die Sorte selbstzufriedene Frau, die genau weiß, wie sie ihren Freund dazu kriegt, das zu tun, was sie will. Sie koche heute nicht. Sie habe heute schon genug getan. „Chinesisch“, sagte ich, „mal gucken, ob es das in New York kriege.“ Wir lachten und ich trat aus der Tür. „New York war gestern!“, rief sie mir noch hinterher. „Heute ist der Rückflug dran. Er zieht das absolut durch, du musst dich wirklich darum kümmern, bitte. Mutter sagt, er isst schon gar nichts mehr. Das ist langsam wirklich was Ernstes.“

Nachdem sie erschöpft seufzte und die Tür hinter sich schloss, dachte ich mir: Wenn Frauen wie ihre Mutter werden, hätte ich es schlechter treffen können. Immerhin sorgte sich die Mutter meiner Freundin liebevoll um ihren Ehemann und überhaupt war sie eine sympathische Person. Während ich weiter darüber nachdachte, fiel mir jedoch ein, dass ich einmal gelesen hatte, dass sich Frauen ihren Partner so suchen, dass er sie an ihren Vater erinnert – und ich dachte lange darüber nach, ob mir das gefallen würde.

Als ich am Haus angelangt war, brannte noch Licht in der Küche und ich sah das Gesicht meiner resignierten Schwiegermutter. Gedankenverloren strich sie über einen Teller und lächelte mir zu. Da sie ziemlich erschöpft aussah, entschied ich mich, direkt zu ihrem Mann zu gehen, um das Problem zu lösen, von dem ich noch immer nicht wusste, ob ich es überhaupt als solches einstufen würde.

Ich öffnete die Tür zur Garage, einem Ort den ich noch nie betreten hatte, und schon blickte ich auf den Himmel über dem atlantischen Ozean. Walter hatte sein angespartes Geld in einem Panorama-Bildschirm investiert, vor dem er in etwa acht Meter Entfernung auf einem Pilotensessel saß. Vor ihm war eine Art Cockpit aufgebaut, das er gewissenhaft zu bedienen wusste, um dann von Zeit zu Zeit Pilotenfloskeln in das Headset zu sprechen. Nach einiger Zeit des interessierten Beobachtens fiel mir auf, dass über ein Dolby Surround System aus allen Ecken der Garage ein verhaltenes Triebwerk-Rauschen in meine Ohren drang. Ich versuchte ein Muster zu erkennen, vielleicht das Schreien von ein paar Möwen oder auch nur ein leichtes Stottern der Triebwerke. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht mehr als ein weißes Rauschen wahrnehmen.
Walter hatte mich in der Zwischenzeit bemerkt und zeigte mir mit der rechten Hand energisch an, dass ich verschwinden solle. Er wedelte mich regelrecht aus der Garage heraus, doch ich schloss nur die Tür hinter mir, lehnte mich gegen eine Wand und beobachtete.
Ich musste zugeben, dass das unveränderliche Rauschen gemeinsam mit den immer gleichen Polygon-Wolken, die auf dem Bildschirm vorbeizogen etwas meditatives hatte. Ich zog es vor, mich nicht zu bewegen und keinen Ton von mir zu geben, denn ich kam mir wie ein Eindringling vor; er hatte sehr deutlich gemacht, dass er niemanden hier haben wollte. Seine Frau – so hatte sie mir berichtet – habe am Anfang wiederholt versucht mit ihm zu fliegen, aber er habe sie überhaupt nicht wahrgenommen, was sie letzlich so verärgert hatte, dass sie ihn später darauf angesprochen, jedoch nur ausweichende Antworten erhalten habe.

Ich fragte mich, während ich dort im Halbdunkel der Garage den Triebwerken lauschte, was meine Freundin wohl gerade treibe. Ob sie es sich wohl mit einer Tafel Schokolade auf unserem gemeinsamen Sofa bequem gemacht hatte, einen Film schaute und sich beim Gedanken an mich totlachte, wie ich hier in einer öligen Garage säße und meiner aussichtlosen Mission nachginge.

Nach einer Weile wurden die Triebwerke leiser, ich schreckte aus meinen Gedanken und glaubte nun, ein Stottern zu vernehmen. Vielleicht eine Stichflamme an einem der Triebwerke? Doch das war Wunschdenken. Stattdessen hörte ich Walter sprechen: „Hor mal, Junge. Ich weiß schon, dass sie sich Sorgen machen, aber du kannst ihnen doch sagen, dass mit mir alles okay ist. Du kannst ihr sagen, dass du mit mir geredet hast und dass mit mir alles in Ordnung ist.“
Jetzt erst bemerkte ich, dass Walters Stimme aus den vier Ecken der Garage kam. Er musste dasselbe System nutzen, um wichtige Durchsagen an die Passagiere zu tätigen.
„Walter, die werden mir nicht glauben. Die machen sich Sorgen um dich. Die wollen das verstehen.“
„Dann erklär’s ihnen doch!“, sagte Walter.
„Dazu muss ich aber erst mal so tun, als hätte ich dich lange angeschaut und es verstanden“, erwiderte ich.
„Wie lange denn noch?“, fragte er und ich, ob es ihn denn störe. „Ja“, ganz immens störe ich ihn, ich ruiniere alles, machte den ganzen Spaß kaputt – er könne meine Anwesenheit ja unmöglich ausblenden. Und nach einer kurzen Pause fragte er schließlich, ob es mir denn gefalle.
„Ich weiß nicht so recht. Es kommt mir alles ein wenig eintönig vor. So ganz ohne Luftkampf oder Brände oder Möwen. Man hat ja nicht mal eine richtige Aussicht.“
„Ja“, erwiderte er.
„Wie Arbeit“, sinnierte ich.
„Ja“, sagte er fast mehr zu sich selbst als zu mir. Das war der erste Moment seit dem ich in der Garage war, in dem ich so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht wahrnehmen konnte.

Wir sprachen dann nicht mehr. Ich schaute ihm einfach nur dabei zu, wie er flog – fünf Stunden haben wir dort gesessen. Als er die Landung vollendet hatte, klatschte ich standesgemäß und ging aus der Garage in die kühle Morgenluft. Draußen erwachte die Straße, nur im Haus der Eltern meiner Freundin brannte kein Licht. Ich spürte Walters Hand auf meiner Schulter, er ging wortlos an mir vorbei, öffnete die Haustür, drehte sich noch einmal um und nickte mir zu. Ich lächelte, wohl wissend, dass Walter sich einfach nach einer Aufgabe gesehnt hatte.
Zu Weihnachten würde ich ihm eine echte Pilotenmütze schenken.

Wir jagen die Sonne

Leerer Raum

„Wolkenmeer, komm nicht her. Ich mag die Sonne doch viel mehr. Gutes Wetter, Sonnenschein. So sollen alle Tage sein.“

Alte Wortspielereien zu lesen, versetzte ihn immer wieder in ein merkwürdiges Gefühl zwischen Stolz und leichter Beschämung. Er selbst mochte die Sätze ganz gern, wie sie da zu Papier gefunden hatten, aber niemals würde er sie anderen aufzwingen wollen.

Er klappte sein altes Sketchbook zu und schaute in die Leere seiner Wohnung. Der Umzug war nun fast abgeschlossen, nur sein alter Schuhkarton mit den kostbarsten Erinnerungen trennte die Wohnung nun noch vom optimalen Übergabezustand. Er verspürte eine leichte Wehmut, wenn er an all die Ereignisse dachte, die er hier erlebt hatte: Der Gewinn der WM 1990, den sie bis in die Morgenstunden gefeiert hatten; die Geburt seiner ersten Tocher, die so plötzlich kam, dass sie es nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft hatten. Und schließlich, vor gerade mal einer Woche, der Anruf der Polizei, die ihn darüber informierte, dass seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Augenzeugen zufolge habe sie auf der Mitte der Kreuzung die Orientierung verloren und wurde in ihrer Starre von einem unachtsamen Autofahrer erfasst. Sie starb direkt am Unfallort. „Immerhin musste sie nicht leiden“, dachte er sich und seufzte.

Während er in Gedanken verloren in die leeren Räume seiner Vergangenheit schaute, betrat seine Tochter schweigend die Wohnung. Sie stellte sich neben ihn und legte ihre Hand vorsichtig auf seine Schulter. „Bist du soweit?“, fragte sie leise, fast flüsternd. „Mhm.“, bejahte er murrend. Sie setzen sich langsam in Bewegung. Ihm lief eine Träne über die Wange, als er realisierte, dass er nie wieder einen Fuß in die Wohnung setzen würde, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. Nun würde er das letzte Mal ein neues Kapitel beginnen, dachte er.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte seine Tochter, fast rechtfertigend: „Wir haben doch aber ein schönes Altersheim ausgesucht“, und wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Er blieb stumm und ein letzes Mal auf der Türschwelle stehen. Er blickte zurück und dann, ganz langsam, schloss er die Tür und folgte seiner Tochter ins Auto.